Wie die Energiekrise die Beschaffung verändert hat
Essen (energate) - Die Energiekrise hat deutliche Spuren in der Beschaffung von Strom und Gas hinterlassen. Das betrifft Energieversorger und Industriekunden gleichermaßen. Zwar sind die Hochzeiten der Preisturbulenzen mittlerweile vorbei, von Normalität oder Durchatmen wollen Branchenexperten dennoch nicht sprechen. "Die Kunden müssen andere Vertragstypen akzeptieren inklusive anderer Beschaffungsstrategien", ordnete Volker Stuke, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Energie-Abnehmer (VEA), für energate ein. Dazu gehört es unter anderem, dass an Flexibilität und Risikoprämien nun ein ganz anderes Preisschild hängt.
Immer noch große Unsicherheit im Markt
Das liegt daran, dass der Markt immer noch von hoher Volatilität und Unsicherheit geprägt ist und dementsprechend nervös reagiert, was besonders für den Gasmarkt gilt, trotz des milden Winters und des erfolgreichen Aufbaus der LNG-Infrastruktur. "Wir haben im europäischen Markt noch viel russisches Gas", sagte Andreas Schwenzer, Partner im Beratungshaus Advyce & Company, im Interview mit energate. Wenn Russland dann mal den Gashahn zudreht und es gibt in einem großen LNG-Exportterminal technische Probleme, dann könne es "schnell eng werden". In der Folge werden die Kunden in den Lieferverträgen "deutlich mehr ins Risiko genommen".
Es braucht bessere Prognosen
Schwenzer sieht in dieser Entwicklung erstmal kein großes Problem, denn tendenziell hätten die Unternehmen vor der Krise zu viel abgesichert. "Flexibilität war sozusagen Gürtel und Hosenträger zugleich", so der Berater weiter. Es sei aber vor diesem Hintergrund wichtig, seine Kundenstruktur besser zu kennen. Er empfiehlt Stadtwerken im ersten Schritt eine genauere Risiko- und Mengenabschätzung der erwarteten Verbräuche, was seiner Meinung nach oftmals zu ungenau geschieht. "Wir sehen da in vielen Häusern eine Schwäche in den Prozessen. Nämlich dahingehend, dass Prognosen sehr grob gemacht werden, quasi mit dem dicken Daumen", führte Schwenzer weiter aus.
Extreme Preisbewegungen werden zum wirtschaftlichen Risiko
Diese schlechte Prognose fällt vielen Stadtwerken gerade doppelt auf die Füße, insbesondere denen mit einer langfristig angelegten Beschaffungsstrategie. Denn für diese Bestandsportfolien sind die Preise extrem hoch und es gibt eine große Differenz zum aktuellen Marktniveau. Die Folge: Mehr Kunden gehen von Bord. "Die Größenordnung des wirtschaftlichen Problems liegt dabei vor allem an den extremen Preisbewegungen", sagt Schwenzer. Zwar hätte auch früher schon eine schlechte Prognose wirtschaftlich weh getan. "Aber dass innerhalb von wenigen Monaten das Marktniveau von 50 Euro auf 1.000 und dann wieder auf 100 Euro zurückfällt, das gab es bislang nicht."
"Tranchenbeschaffung funktioniert nicht mehr"
Einige Versorger und Energieabnehmer haben darauf bereits reagiert und ihren Beschaffungsturnus angepasst. "Es gibt einen Trend, kurzfristiger zu beschaffen als in der Vergangenheit", berichtet der Berater aus der Praxis. Vorher hätten viele Unternehmen schon drei Jahre vor Lieferbeginn angefangen, zu beschaffen. Jetzt seien es eher zwölf Monate. Das bestätigen auch Hind Seiferth und Matthias Lohse, Geschäftsführer des Handelsdienstleisters Unigy, im Gespräch mit energate. "Die bisherigen Modelle der Tranchenbeschaffung über einen Zeitraum von drei Jahren funktionieren so nicht mehr. Energieversorger müssen sich in ihrer Bepreisung viel näher am aktuellen Marktgeschehen bewegen", erklärte Seiferth im energate-Interview.
Versorgungskonzept statt Standardliefervertrag
Die kurzfristige und strukturierte Beschaffung mit Jahres-, Monats- und Quartalsprodukten sowie Spotbeimischung bringt aber ganz neue Herausforderungen mit sich. Hinzu kommt, dass Beschaffer zunehmend in Versorgungskonzepten denken müssen, weil Kunden nicht mehr nur Abnehmer, sondern zugleich Stromproduzenten sind. "Mit einem Standardliefervertrag ist es da häufig nicht mehr getan", führte Seiferth weiter aus. Hinzu kommt der Dekarbonisierungsdruck, unter welchem Industrie und Versorger gleichsam stehen. Das bedeutet, sie müssen sich zunehmend mit Themen wie PPA-Modellen, Herkunftsnachweisen oder künftig auch mit der Beschaffung von Wasserstoff in den verschiedenen Farben beschäftigen.
Neue Beschaffungsstrategien: Komplex und individuell
Dass die Beschaffung für die Unternehmen damit immer komplexer und auch individueller wird, darin waren sich die befragten Branchenexperten einig. Ein Best-Practice-Modell gibt es dabei nicht wirklich. "Denn die Beschaffung ist sehr stark abhängig von der eigenen Situation und dem eigenen Portfolio", so Schwenzer. Als Beispiel nennt er Power Purchase Agreements (PPAs), die sich mittlerweile bei Industriekunden als attraktive Bezugsquelle für Grünstrom etabliert haben. "Wenn ich aber einen Kunden habe, der nur bei Verivox nach dem günstigsten Preis guckt und dann einmal im Jahr wechselt, den würde ich niemals mit einem PPA beschaffen", erklärt der Berater. Mit der neuen Komplexität in der Beschaffung werden technische Hilfsmittel, wie Algo-Trading und künstliche Intelligenz, eine immer wichtigere Rolle spielen. "Denn Menschen machen immer mehr Fehler als der Automat", sagt Matthias Lohse. Hier müssten die Unternehmen der Branche aber noch ein Stück weit Vorbehalte und Berührungsängste abbauen, so der Unigy-Geschäftsführer. Denn insbesondere der Intraday-Handel sei ohne Automatisierung gar nicht mehr abbildbar. /ml
Die vollständigen Interviews mit Andreas Schwenzer, Advyce & Company, sowie Hind Seiferth und Matthias Lohse, Geschäftsführer Unigy, lesen Sie im aktuellen Sonderheft der emw, das am 3. Mai erschienen ist.