"Es darf keine Rolle rückwärts bei der Energiewende in Thüringen geben"
Erfurt (energate) - Die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen haben das bestätigt, was viele erwartet hatten: AFD und BSW haben deutlich an Zustimmung gewonnen, während die Ampelparteien größtenteils deutlich verloren. Aus Sicht von Bernhard Stengele (B90/Grüne), Umwelt- und Energieminister in Thüringen, ist es schwieriger geworden, die Menschen in Anbetracht von populistischen Parolen zu erreichen - und das trotz positiver Energiewendebilanz seines Landes, betont er im Interview mit energate.
energate: Herr Stengele, die Grünen haben es in Thüringen nicht mehr in den Landtag geschafft. Dafür hat die AFD als Klimaleugnerpartei massiv Zulauf bekommen. Gab es für die Menschen in Thüringen also schlichtweg wichtigere Themen als den Klimaschutz?
Stengele: Es gibt vielfältige Gründe. Wie schon bei Europa- und Kommunalwahl wurden mit Migration und Ukrainekrieg von AFD und BSW, aber von CDU Bundesthemen in den Wahlkampf gezogen. Es war schwer, über Landesthemen zu sprechen - schon gar nicht über Klima- oder Naturschutz. Es gibt gerade offenbar so etwas wie eine Regressionsphase, in der die Leute nicht mehr hören wollen, was ist, sondern an Retro-Märchen glauben: Man müsse Putin nur Frieden anbieten, wir können Migration leicht stoppen oder mit Atomkraft wäre alles einfacher. Diese Diskussionen hatten einen mächtigen Einfluss.
energate: Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Weichen, die die Politik für die Energiewende stellen sollte?
Stengele: Die Energiewende kann und sollte auch ein Demokratieprojekt sein. Es ist für die Akzeptanz wichtig, Bürgerinnen und Bürger oder eben ihre Kommunen, die in der Nähe von Energieanlagen sind, finanziell zu beteiligen. Das haben wir in Thüringen seit Juli mit unserem Windbeteiligungsgesetz erreicht. Ebenso wichtig ist die Finanzierung des klimafreundlichen Umbaus. Jetzt auf der Investitionsbremse zu stehen, ist der völlig falsche Ansatz. Für Wärme- und Energiewende brauchen wir eine gute Infrastruktur, die wir in der Planung berücksichtigen müssen. In Thüringen planen wir deshalb den integrativen Netzausbau. Und: Wo immer wir können, sollten wir komplizierte Verfahren vereinfachen und unnötige Bürokratie abbauen, um Unternehmen, Kommunen und Bürgerinnen und Bürger zu entlasten.
energate: Sie sind erst Anfang 2023 Energie- und Umweltminister in Thüringen geworden und haben das Amt von Anja Siegesmund übernommen. Wenn Sie auf die geteilte Amtszeit zurückblicken, wie ist die Energiewende in Thüringen die vergangenen vier Jahre vorangekommen?
Stengele: Wir haben gemeinsam viel erreicht. Bereits unter Anja Siegesmund ging der Ausbau der Solarenergie voran. Der Solarrechner unserer Landesenergieagentur konnte für Bürgerinnen und Bürger weiter ausgebaut werden, damit sie online erkennen, wie groß und lukrativ das Solarpotenzial auf ihren Dächern ist und entsprechend investieren. Der Rechner wird demnächst um Parkplatz-Flächen erweitert. Viele Unternehmen haben sich bereits auf einen klimafreundlichen Umbau eingestellt und sehen Chancen in Energieeffizienz und eigenständiger sauberer Energieerzeugung. Da reden wir viel und konstruktiv miteinander. Das Windbeteiligungsgesetz habe ich übernommen und zu Ende geführt. Ich bin zuversichtlich, dass es bald Wirkung entfalten wird.
energate: Und wie sieht es im Wärmesektor aus?
Stengele: Wir konnten als erstes Bundesland ein Wärmeplanungsgesetz auf den Weg bringen. Der Landtag hat das Gesetz - trotz Minderheitsregierung - im Sommer verabschiedet und damit die von den Kommunen geforderte Rechtsgrundlage und Planungssicherheit für die kommunale Wärmeplanung geschaffen. Wir haben mit einer passenden Verordnung die Kostenerstattung - rund 50 Mio. Euro bis 2028 - der Gemeinden für die Wärmeplanung geregelt. Die Gemeinden können sich jetzt auf den Weg machen und Dienstleister für die Wärmeplanung binden - die Voraussetzungen sind da. Damit ist Thüringen Vorreiter in Deutschland. Modellprojekte haben gezeigt, wie Klimaschutz und die soziale Frage gemeinsam beantwortet werden können. Zum Beispiel in Stadtroda, wo der erste klimaneutrale Plattenbau WBS 70 steht und eine Blaupause für 6.000 baugleiche Gebäude in ganz Ostdeutschland sein kann.
energate: Was sind die größten Themen, die die kommende Landesregierung in Thüringen im Rahmen der Energiepolitik anpacken oder fortführen muss?
Stengele: Vor allem darf es keine Rolle rückwärts geben - das kann und darf sich Thüringen gar nicht leisten. Zukünftige Wirtschaftskraft hängt mit der Fähigkeit zusammen, klimafreundlich produzieren und transportieren zu können. Das ist eindeutig ein Standortvorteil. Gerade haben uns Forscher aus Leipzig eine Transformationsstudie vorgelegt. Sie zeigt, jeder hier von der öffentlichen Hand investierte Euro, beispielsweise in die Infrastruktur und in Energieeffizienz bei landeseigenen Gebäuden, lohnt sich doppelt. Und gerade kleinere Gemeinden und Landkreise sind im Bereich Klimaschutz und Klimaanpassung mit Personal und Geld auszustatten, um die umfangreichen Aufgaben, die auch auf sie zukommen, erfüllen zu können. Das ist elementar wichtig, damit Thüringen den Anschluss nicht verliert und wir unsere Ziele erreichen.