Chemieindustrie zweifelt an Flexibilisierung
Berlin (energate) - Die Industrie steht den Plänen der Bundesnetzagentur zur Reform der Rabatte bei den Netzentgelten skeptisch gegenüber. So zieht etwa die Chemieindustrie die anvisierten Potenziale bei der Flexibilisierung der Stromabnahme in Zweifel. "Wir sehen die Notwendigkeit der Flexibilisierung. Aber niemand darf dabei die industriellen Realitäten ausblenden", sagte Matthias Belitz, Bereichsleiter Energie und Klimaschutz beim Verband der Chemischen Industrie (VCI), bei einem Pressegespräch. So sei etwa die chemische Industrie nur bei einem kleinen Teil der Prozesse und Verfahren in der Lage, die Fahrweise ohne größeren Aufwand zu verändern. Alles Weitere erfordere zusätzliche Investitionen. "Flexibilisierung gibt es nicht zum Nulltarif", fasste Belitz zusammen.
Lastabwürfe reduzieren Produktionsausstoß
Der VCI-Bereichsleiter erinnerte daran, dass eine hohe Auslastung ein "weltweit gültiges Grundprinzip" in der industriellen Produktion sei, um die Fixkosten einer Anlage gering zu halten. "Eine flexible Fahrweise ist die Abkehr von diesem Grundprinzip", gab er zu bedenken. In der chemischen Produktion liefen viele Anlagen ohnehin in einer sehr hohen Auslastung, die sich nahe 100 Prozent bewegt. "Wenn sie hier einen Lastabwurf vornehmen, verlieren sie Produktionsmengen, die sie nicht aufholen können", warnte er vor Effizienzverlusten.
Die Bundesnetzagentur hatte Ende Juli eine Reform der Netzentgeltberechnungen für die Industrie angekündigt und ein entsprechendes Eckpunktepapier vorgelegt. Bislang profitieren industrielle Großverbraucher von Rabatten, wenn sie einen besonders gleichmäßigen Stromverbrauch aufweisen. Die Bundesnetzagentur möchte nun eine stärkere Flexibilisierung des Strombezugs anreizen, um die Nachfrage auf die volatile Erzeugung anzupassen. Erste industrielle Interessenvertretungen haben bereits alarmiert auf die Pläne reagiert und vor Wettbewerbsnachteilen für den deutschen Wirtschaftsstandort gewarnt. Tatsächlich sind die reduzierten Netzentgelte für viele Industriebetriebe existenziell. Nach Schätzungen ersparen die Netzentgeltreduktionen der energieintensiven Industrie im laufenden Jahr voraussichtlich 1,5 Mrd. Euro Stromkosten.
Flexibilisierungspotenziale unklar
Der VCI forderte im Rahmen des Pressegesprächs zudem einen realistischen Blick auf die Flexibilisierungspotenziale. Genaue Zahlen konnte der Verband wegen der Heterogenität der Branche hierzu nicht vorlegen. Bereichsleiter Belitz ging aber davon aus, dass die Prozesse der Chemieindustrie ihren Strombezug lediglich im einstelligen Prozentbereich ohne zusätzliche Investitionen flexibilisieren könnten. Zudem führten Schwankungen in der Fahrweise bei vielen Anlagen zu Qualitätsverlusten und höherem Verschleiß. Und nicht zuletzt schränkten häufig technische und Sicherheitsvorgaben die Prozessführung ein. "Chemieanlagen kann man nicht einfach an- und ausschalten wie einen Küchenherd", fasste Belitz zusammen.
Der VCI forderte die Bundesnetzagentur auf, im Rahmen des Reformprozesses die Flexibilisierungspotenziale auf Unternehmensebene sowie die benötigten Reaktionszeiten abzufragen und entsprechend zu berücksichtigen. Zudem forderte Belitz, bei der Frage der Flexibilisierung des Energiesystems "den kompletten Lösungsraum zu betrachten" und keine Verengung auf industrielle Verbraucher vorzunehmen. Einen konkreten Lösungsvorschlag zur Reform der industriellen Netzentgelte könne der VCI indes nicht bieten, räumte er ein. /rb
Wie eine Neugestaltung der Netzentgelte für die Industrie aussehen könnte, hat der Thinktank Neon in einer Studie untersucht. Die Ergebnisse lesen Sie im heutigen Add-on Markt und Industrie.